„Die Mauer ist offen!“ – Erinnerungen an den Mauerfall während der Kirmes 1989

Der 09. November 1989 war ein diesiger und nasskalter Donnerstag. Ich war nicht sonderlich gut gelaunt und war mit meinem alten braunen Fiat Uno, bei dem sich das Tür-Zuschlagen anhörte, als wenn man eine leere Cola-Dose gegen eine Wand wirft, auf dem Weg von Altenstadt nach Soest. Wie konnten die Deppen der Bundeswehr ausgerechnet zur Allerheiligenkirmes einen Luftverlade- Luftverlaste-Lehrgang terminieren. Das ist etwas für die Sommermonate und definitiv schickt man keinen Soester Anfang November zur Kirmeszeit nach Bayern. Mein Kompaniechef, der diese grandiose Idee hatte, war Lippstädter – was soll ich sagen. Die Welt war einfach schlecht und ungerecht.  - Pferdemarkt-Donnerstag, meine Freunde feiern seit 09 Uhr morgens, haben fürchterlich viel Spaß und ich kurve hier rum …

Das Blaupunkt-Kassettendeck im Auto dudelte meine Mixed-Tapes runter und gab sein Bestes, mich mental wieder in die Spur zu bringen. Gebetsmühlenartige Beruhigungsparole: Klar, das holst du wieder auf, schnell ein paar Bierchen bei Traber und zwei Dudelmänner und schwupps bist du wieder im Rennen. Und tatsächlich wurde meine Laune mit jedem Kilometer weiter Richtung Soest etwas besser, sodass ich ab Fulda lauthals die Knaller der 80er, wie The Look von Roxette, mitgrölte. In Geseke verabschiedete sich dann auch noch der Kassettenrekorder und fing an zu leiern, war wohl zu heiß geworden. Um 22:30 Uhr passierte ich also radiohörend gerade die große Kreuzung am Pilgrimhaus in Richtung Wohnung meiner Eltern, als die unglaubliche Nachricht über den Äther kam: „Die Mauer ist offen!“

Meine Gedanken rasten schneller als mein Uno, und ich konnte es kaum fassen. Die Berliner Mauer, dieses monströse Betonmonster, das Ost und West voneinander trennte, war tatsächlich gewaltlos geknackt worden. Das war ein historischer Moment, eigentlich das erste wirklich geschichtlich bedeutende Ereignis meines damals 24-jährigen Lebens. Mein erster Impuls war, die Wohnung meiner Eltern rechts liegen zu lassen und sofort alles aus meinem Fiat zu holen und direkt weiter nach Berlin zu kacheln, um diesen historischen Moment vor Ort mitzuerleben. Meine Schwester hatte eine Praxis in Westberlin und so wäre eine Unterkunft gesichert. Am Gebrauchtwagenplatz von Opel Rosenthal & Rustemeier aber hielt ich an und inne, denn ein Soester muss auch mal Prioritäten setzen: Was ist wichtiger, ein Meilenstein der Weltgeschichte oder ein Kirmesdonnerstag? Nun, ich bin ein Soester Kirmeskind und bin geblieben! 

Die Nacht von Donnerstag auf Freitag auf der Allerheiligenkirmes in Soest war dann auch einzigartig und unbeschreiblich, ja nahezu magisch! Nun ist die Stimmung an einem Pferdemarktdonnerstag immer unfassbar ausgelassen und exzessiv. Die Stimmung an jenem Donnerstag im Jahre 1989 war aber nicht nur ausgelassen und exzessiv, sondern zudem auch noch von wahrer und ehrlicher Freude erfüllt. Es fühlte sich an, als ob die Freiheit und Euphorie des Mauerfalls sich durch die Fahrgeschäfte und Buden auf der Kirmes bis in die Kneipen der Stadt schlängelte. Eine derartig ehrwürdige und feierliche Atmosphäre bei gleichzeitiger Mega-Party wird es wohl nie wieder so geben. Das kann damals auf dem Ku‘damm auch nicht besser gewesen sein. 

Die Allerheiligenkirmes hatte an diesem historischen Abend ihren eigenen Platz im Geschichtsbuch meines Lebens gefunden. Und ich kann mit einem breiten Grinsen sagen, dass ich die Party des Jahrhunderts nicht verpasst habe. Und um die wichtigste Frage noch zu klären, ob man seine trinkfesten Kumpel an einem Kirmesdonnerstag noch spät abends einholen kann: Auf die Frage meines Freundes Christoph: „Seit wann bisssu denn genau so voll wie ich?“ kam meine Antwort: „Das tritt nach meiner Kenntnis (…) ist das sofort. Unverzüglich.“

Von: Oliver Früchtenicht

Diese und weitere Geschichten hier:

https://blundus-shop.net/buecher/soest/10/soester-kirmesgeschichten-teil-4

Soester Kirmesgeschichten Teil 4
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Publiziert am:

30.12.23