An den Kirmestagen gibt es immer mehr Brei als Löffel

„Junge, spar dir doch dein Taschengeld, wenn die Karussellfahrt zu Ende ist, ist der Spaß vorbei und das Geld weg“ – mit diesen Sätzen versuchte meine Mutter jedes Jahr im Herbst, den kleinen Klaus zur Vernunft zu rufen. Meist zu spät, denn wenn der Wohnwagen von Felix Jülke, dem Betreiber des Kinderkarussells, erst seinen Standplatz auf unserem Gelände bezogen hatte, wechselte ich meine Erziehungsberechtigten. Mein Vater betrieb in Scheidingen einen Kolonialwarenhandel, dazu gehörten auch der Verkauf und die Anlieferung von Koks, Briketts und Eierkohle. Die lagerten auf einem großen Platz in der Ortsmitte, und dort war auch Platz für meine unfreiwillige Pflegefamilie mitsamt ihrem Fuhrpark.  Deren Leben „on the road“ war so fremd und abenteuerlich für mich, dass ich von früh bis spät am Rockzipfel von Mama und Papa Jülke hing und beiden mit meiner unstillbaren Neugier Löcher in den Bauch fragte.

Meine dauernde Anwesenheit brachte es mit sich, dass ich beim Aufbau des Kinderkarussells helfen durfte. Wie groß war die Freude, als ich dafür auch noch Freikarten bekam. Jetzt hatte ich die Lösung des Problems gefunden: Ich konnte Karussell fahren und zugleich mein Taschengeld behalten. Und weil ich meinen besten Freunden davon erzählte, lungerten auch die dann bei einem der drei bis vier Karussells rum, die sich zur großen Scheidinger Herbstkirmes in unserem Dorf einfanden, halfen mit oder gingen den armen Schaustellern so lange auf die Nerven, bis auch sie Freikarten ergatterten. Dann wurden Karten getauscht, und schon stand uns der ganze Rummel offen.

Felix Jülke hat sein Karussell ein paar Jahre später aus Altersgründen verkauft, und auch die anderen Schausteller fanden unsere traditionelle Kirmes nicht mehr lohnenswert, so dass am Ende für einige Jahre nur noch die traditionelle Rinderwurst an diesen Jahrmarkt erinnerte. Uns Teenagern war das ziemlich egal, stand uns doch eh der Sinn in die weite Welt – und die Mutter aller Kirmessen fand sich nur wenige Kilometer östlich in Soest. Und die Tatsache, dass unser Kirmesgang sowohl von Eltern als auch von Lehrern missbilligt wurde, regte unsere Phantasie zu abenteuerlichen Ausreden an.

Später dann, in den Jahren des Studiums, war die Allerheiligenkirmes ein jährlicher Treffpunkt für alle Jugendfreunde – ohne Verabredung, ohne zu wissen, welche guten alten Bekannten man wiedersieht und wo – egal, das Ungewisse übte zusätzlichen Reiz aus. Und alle kamen sie Anfang November, aus allen Ecken Deutschlands, auch aus dem isolierten West-Berlin. Und damit unsere ostdeutschen Landsleute auch kommen konnten, wurde rechtzeitig zur Kirmes 1989 der eiserne Vorhang geliftet. So kam es mir zumindest vor, als ich während der Kampagne 89 in den beiden großen Silos in der Zuckerfabrik arbeitete. Von dort, hoch oben unterm Dach, konnte ich das Einheitsfeuerwerk am Kirmesfreitag sehen – ein ganz besonderes Erlebnis.

Das blieb nicht das letzte Mal, dass ich zur Kirmes gearbeitet habe. Ich habe viele Jahre das – damals noch freie – Studentenleben genossen, und meine praktischen Sozialstudien mit dem Broterwerb als Taxifahrer kombiniert. Nachts, versteht sich. Und wer das zur Soester Kirmes einmal gemacht hat, der weiß: Das ist die längste, schnellste und unberechenbarste Karussellfahrt auf der ganzen Kirmes! Unser altersweiser Funker Franz Glaremin, ein Soester Urgestein, wusste: „Wenn es Brei regnet, musst du einen Löffel haben!“ – und an den Kirmestagen gibt es immer mehr Brei als Löffel. 

Ist der Taxifahrer sonst gern willkommener Blitzableiter für alle Arten von schlechter Laune, muss er sonst jeden noch so fiesen Möpp kutschieren, so hat er an den tollen Soester Tagen die Fäden in der Hand. Wer pöbelt, wird gar nicht erst mitgenommen – ein langer Fußmarsch hat schon manchen wieder auf klare Gedanken gebracht! Jeder Kunde ist froh, endlich eine Droschke gefunden zu haben, jeder hat Verständnis, wenn es der Fahrer eilig hat. Und alle sind „gut drauf“, weil die Kirmes Menschen glücklich macht – zumindest den „Homo Susatensis“. Die wenigen kritischen Fälle, denen sich sonst auf der Heimfahrt der Magen umdreht, die haben sich nach der letzten Karussellfahrt bereits von unnötigem Ballast befreit. Der Kirmeskunde ist der beste Fahrgast im ganzen Jahr! Der ist auch bereit, mit wildfremden Leuten Fahrgemeinschaften zu bilden (vorher im Karussell war‘s ja auch so), damit alle nach Hause kommen. Das macht der Westfale sonst nur, wenn er ganz knapp bei Kasse ist – zur Kirmes aber hat er in der Regel selbst das Trinkgeld für die Heimfahrt einkalkuliert.

Natürlich ist so eine Nachtschicht zur Kirmes auch purer Stress, während so einer Nacht beförderte ich auf den vier Fahrgastplätzen in meinem Benz mehrere Busladungen von Menschen, fuhr mehr als eine Tankfüllung leer, raste über hunderte von Kilometern Stadt- und Landstraßen, immer voll konzentriert, bei allem Wind und Wetter, das die Börde so Anfang November bereithält, ständig auf der Hut vor betrunkenen Fußgängern, die spontan die Straßenseite wechseln. Und wenn man dann um 5 Uhr nachts auf Kundensuche die Jakobistraße herunterfährt, beim winkenden Kunden anhält und merkt, dass zehn Meter weiter die Polizei das Einhalten von Tempo 30 per Blitzgerät einfordert, dann stellt sich ein Glücksgefühl ein, wie es nur auf der Soester Kirmes möglich ist. 

Und wenn zum Feierabend dann das Trinkgeld gezählt wird, dann ist die Karussellfahrt zwar vorbei, aber das Geld ist nicht weg und der Spaß kommt noch.

Von: Klaus Mönnig, ehemals Kulturbüro Soest

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https://blundus-shop.net/buecher/soest/10/soester-kirmesgeschichten-teil-4

Soester Kirmesgeschichten Teil 4
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Publiziert am:

30.12.23