„Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.“

Als Jochen Gottwald noch ein Kind war, verschlug das Schicksal den im Riesengebirge geborenen Jungen nach Soest. Wie so viele seiner schlesischen Landsleute landete er im O-Lager am Meiningser Weg, das Vertriebenen und Flüchtlingen ab 1946 eine erste Bleibe bot. Heute ist er 83 Jahre alt, und er gehört wohl zu den größten Fans seiner Lieblingsstadt Soest. Zwar wohnte er zwischendurch lange in Hamm, doch vor einigen Jahren kehrte er zurück, zog in eine Wohnung an der Wiesenstraße in direkter Nähe zum Großen Teich und steckt nun wieder mitten im Geschehen. Wer ihn von früher kennt, erinnert sich mit einem Schmunzeln. „Das ist doch der singende Stadtgärtner“, sagen alte Bekannte über den einstigen Mitarbeiter des Grünflächenamtes, Personalrats-Vorsitzenden im Rathaus und bekannten Band-Leader, der schon mit vielen prominenten Künstlern auf der Bühne stand. Die Auftritte des Gottwald-Quartetts im Hubertussaal an der Ulricherstraße sind legendär.

Mit seinen Anekdoten aus Soest und über die Soester in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren könnte Gottwald spielend ganze Bücher füllen. Als er jetzt von der Sanierung der mittelalterlichen Stadtbefestigung im Abschnitt Jakobi-Nötten-Wall hörte, dachte er sofort an die Jahre, in denen er dort gelebt hat; eine prägende und unvergessene Zeit für ihn. Damals hatte er schon seine Lehre als Fliesenleger bei der Firma Cartelli abgeschlossen, sich dann aber entschieden, sich nach einem anderen Beruf umzusehen. „Mit Bubi und Lotti Lübke bin ich schnell einig geworden: Bei ihnen lernte ich, was ein Gärtner und Florist können muss, und sie boten auch Kost und Logis“, erinnert sich Jochen Gottwald an seine Lehrzeit in der Gärtnerei Lübke. Der junge Mann schlief im Dachgeschoss des Hauses Jakobistraße 3 und genoss vom Fenster aus den Panoramablick: links das Café Witthöft, rechts das Haus Kipp – eine Gaststätte mit Biergarten –, ein Stück weiter das Jakobitor und ganz links die Villa Milke.

In seinem reichen Fundus aus Fotos von Soest früher und heute befinden sich auch Bilder des Jakobitores –

eine Einladung zu einer kleinen Zeitreise. Das historische Bauwerk wurde im 19. Jahrhundert abgerissen. Zwei Fußgänger-Durchlässe blieben rechts und links der Straße stehen, doch im Juli 1957 rammte ein belgisches Militärfahrzeug den südlichen Teil des einstigen Entrees und zerstörte dieses Relikt. Eine alte Aufnahme zeigt noch die beiden Tor-Reste, verbunden mit von Laub umrankten Bögen, in deren Mitte eine Jägerken-Figur grüßt. Die Familie Bergmann, in einem gepflegten und geschichtsträchtigen Fachwerkgebäude an der Jakobistraße zuhause, habe den schmucken und nun zu Fall gebrachten Burschen nach dem Unfall in ihre Obhut genommen, schildert Jochen Gottwald. 

Als Bergmanns später nach Hamm gingen, nahmen sie, wie er weiter berichtet, das Jägerken mit und schraubten es als Erinnerung an Soest an ihr Eigenheim. Dort entdeckte es Jochen Gottwald bei einem Besuch, und nach dem Tod des Ehepaares setzte er einige Hebel in Bewegung, damit es wieder nach Soest kommt. Besonders am Herzen liegt ihm ein Foto eines Gemäldes aus dem Bergmannschen Nachlass. Das Motiv: ein Blick in die Jakobistraße in vergangenen Zeiten, im Hintergrund erheben sich die Türme von St. Petri und St. Patrokli. „Leider ist es mir bis heute nicht gelungen, mehr über den Maler zu erfahren,“ bedauert er. 

„Schön war die Zeit!“, meint der Senior, wenn er an seine jungen Jahre in der Jakobistraße, die „für mein weiteres Leben zur Drehscheibe wurde", zurückdenkt: Wie er abends auf dem Fensterbrett seiner Junggesellenbude gesessen und fröhlich zur Gitarre gesungen habe, besonders gern den Refrain: „Die Blumen sind für Bella Bimba“, was einer Nachbarin allerdings so missfiel, dass sie ihn vor den Kadi gezerrt habe; wie er damals für die Weihnachtsgirlanden in der gesamten Jakobistraße zuständig war; wie er im Oktober 1959 heiratete und Lübkes dem frisch gebackenen Ehepaar die Obergärtnerwohnung mit Plumpsklo im Garten anboten: „Wir waren stolz auf unser eigenes Reich.“ 

Viel Zeit zum Feiern sei nach der Trauung durch den Standesbeamten Herbert Schütte aber nicht geblieben. Allerheiligen stand vor der Tür, und es mussten Gestecke für den Friedhof gebunden werden. Jakobistraße 3, das war auch die erste Adresse für Sohn Frank, der 1960 zur Welt kam. „Ein echter Jakobus“, so Vater Gottwald, der noch unendlich viele Dönekes zum Besten geben kann. Zum Beispiel die Geschichte um den Ausgang des Rechtsstreits mit der Nachbarin, die seine musikalischen Beiträge nicht hören wollte. Der Richter entschied im Namen des Volkes: „Jochen darf ruhig singen…“. Denn: „Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen kennen keine Lieder.“

Heyke Köppelmann

Publiziert am:

30.12.23